1.

Okt

Sauber, Marktoberdorf. Eine Bollerkarrentour mit Waschweib Zenzi

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Straßenszenen in Marktoberdorf: Weißbier unter weißen Schirmen

Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die schon viele Stempel und Visa in ihren Reisepässen haben, und ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)

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Die Zenzi und ihr Reich: Gäste der Stadtführung und Maria im goldenen Lichte

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Karre mit Lehrauftrag: das Gefährt der Geschichtenerzählerin

Ein interessanter Wettstreit herrscht zwischen den Destinationen dieser Welt. Mit skurrilen Superlativen buhlen sie um Besucher. Die fahren für 25 Euro mit dem Aufzug auf die Aussichtsplattform des höchsten Gebäudes der Welt und blicken in eine dunstige Wüstenwelt. Zu ihren Füßen andere Hochhäuser. Eine mehrspurige Autobahn, die sich in der Ferne verliert. Künstliche Inseln. Doch schon weit vor dem Horizont gibt es nur noch Wüste oder Meer. Und erst wenn man hier steht, ganz oben, quasi über der Welt, dann erkennt man, wie fehlt am Platz man hier eigentlich ist.

Erst jetzt fragt man sich: Was hat man eigentlich davon, wenn sich mit dem Gesehenen keine Geschichte verbindet. Wenn sich alles, was man  zu Hause erzählen kann, darauf reduziert: Ich war ganz oben. Freunde oder Nachbarn fragen: Und? Eigentlich müsste man antworten: Ein Schmarrn. Doch wer tut das schon? So überhöht man das Banale, dramatisiert das Belanglose und nährt mit dem Bedürfnis, etwas Wertiges erlebt zu haben, die Sehnsucht der anderen. Bis auch sie irgendwann da oben stehen. Und es langweilig finden. Doch wird es dauern, bis jemand ruft: „Aber der Kaiser ist doch nackt…“

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Geistliches und weltliches Reich: Kapelle und Kurfürstenallee

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Hier residiert die Bildung: Bayerische Musikakademie im Schloss Marktoberdorf

So manchem Leser mag es eine gewagte Volte sein, die aus dem Übermorgenland nach Marktoberdorf führt. Umso mehr, da es hier an jedem Superlativ mangelt. Stattdessen kommt Waschweib Zenzi mit einem Bollerwagen um die Ecke gerumpelt. In ihrer Handkarre ein paar Hemden, Wolle, ein Fell, ein Waschbrett und zwei Bügeleisen, schwer wie olympische Gewichte.

Jetzt baut sich die Frau mit der weißen Haube keck vor uns auf, ein freches Lachen im rotwangigen Gesicht, und sie erzählt von ihrem Leben als Wäscherin, vom harten Alltag, von Seifen, die keine sind, und von Männern wie Wäschestücke, sauber vom Weiten, doch je näher man ihnen komme… Deshalb sei es doch auch kein Wunder, dass es deutliche Preisunterschiede gebe im Badehaus, der einzig öffentlichen Waschgelegenheit der Stadt – Frauen zahlen für das Wannenbad zwei Kreutzer, Männer das doppelte. Gelächter. Und weiter geht es mit der Geschichtenerzählerin durch Marktoberdorf.

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Heiterkeit, Sonne, die Zukunft der Mobilität: Radfahrerinnen

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Wir sind dann mal weg: Der Jakobsweg und seine Auszeichnung

Rund 18.000 Einwohner hat Marktoberdorf heute. An diesem Sommernachmittag präsentiert sich die Stadt im hübschesten Sonnenglanz. Die Stadtführerin trifft uns in der belebten Georg-Fischer-Straße. Zum Teil ist die verkehrsberuhigt. Unter weißen Sonnenschirmen sitzt man bei einem Kaffee oder Bier, Spaziergänger kommen vom Marktplatz, Mädchen radeln in kurzen Hosen an uns vorbei. Eine große Unbeschwertheit liegt in der Luft, eine sympathische Gelassenheit.

Wir folgen dem Karren in die Geschichte, in die mitunter dunklen Jahre. Beim nächsten Stopp erzählt die Zenzi von der Hexenverfolgung. Vor allem rothaarige Frauen mit auffälligen Warzen oder Leberflecken mussten sich erst der „gütlichen Vernehmung“ stellen, dann der meist von Folter begleiteten „peinlichen Befragung“. Befand man sie der Hexerei für schuldig, wurden sie bei lebendigem Leibe mit der heißen Zange gezwickt, man hat ihnen die Hände abgehackt und sie schließlich verbrannt. In der Hochphase dieser barbarischen Feldzüge gegen das weibliche Geschlecht mussten in Marktoberdorf in nur zwei Jahren 68 Frauen ihr Leben lassen.

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Geschichte to go: Historische Stadtführung durch Marktoberdorf

Das will gar nicht so recht passen zu dieser hübschen Stadt. Man muss sich also ein besseres Bild von der Zeit machen. Von einem Ort mit eher 4000 Einwohnern, die Straßen nicht gepflastert, so dass nach jedem Regen überall Matsch stand. Statt einer Kanalisation spülten offene Gräben den Müll und die Fäkalien in den nahen Fluss. 1819 erfolgte die letzte öffentliche Hinrichtung, „unter großem Zulauf“ wurde ein Mörder geköpft, und 1902 erhebt sich Marktoberdorf aus dem Dunkel der Geschichte – die Elektrizität erreicht die Stadt.

Doch, halt! Halt! Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, es habe vor allem Düsternis geherrscht in diesem Teil des Allgäus. Nichts wäre weniger wahr. Mit ihrem kecken Charme hat die Zenzi nun einige Kerle dazu gebracht, ihre Karre hügelan zu schieben. Und so geht es hinauf, durch die Wohngegenden der Bessergestellten, zu denen auch der Architekt Johann Georg Fischer gehörte, bis zum Schloss der Stadt. Es wurde im 18. Jahrhundert nach Bauplänen von eben jenem Johann Georg Fischer als barocke Residenz für den Fürstbischof errichtet, der ein Herrscher war über Seele und Welt. Und es heißt, dass zumindest der letzte dieser Art, Fürstbischof Clemens Wenzelslaus, ein Faible für die schönen Mädels aus Marktoberdorf hatte.

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Schauspielerei? Stadtführerin Frau Fischer wird für zwei Stunden eine andere Person

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Waschbrett und Heubett: Seife, die keine ist, und viel Arbeit mit Bürste und Brett

Clemens Wenzelslaus verbrachte, nach dem man ihm fast alles genommen hatte, seinen Lebensabend im Schloss auf dem Hügel über der Stadt. Ausgestattet mit einer Pension von 100.000 Gulden – nur zum Vergleich: für einen Gulden Lohn musste ein Handwerksmeister etwa zwei Tage arbeiten – soll er es besonders geliebt haben, die von etwa 600 Linden gesäumte Kurfürstenallee entlang zu spazieren. Die Idee dazu, diese Straße anlegen zu lassen, war aus Versailles inspiriert. Denn damals schon gab es den Wettstreit der Destinationen. Herrscher und Könige buhlten mit ihren Bauten und Gärten um die Gunst anderer Adliger.

Die zwei Kilometer lange, wunderschöne Allee endete an einem kleinen Tempel, von dem aus man einen tollen Blick gehabt haben soll über das Land rund um diese hübsche Stadt. Die Legende besagt, dass der Tempel just an jenem Tag als der letzte Fürstbischof starb, in Flammen aufging. Wir haben das Schloss erreicht. Es ist Sitz der Bayerischen Musikakademie. Wir hören Nachwuchsmusiker einzelne Sätze der „Carmina Burana“ proben. „Schicksal, wie der Mond dort oben, so veränderlich bist du…“ Hinunter in die Stadt rollt nun der Bollerwagen von Waschweib Zenzi. Sie hat ein paar Kerle becirct, die Bremser für sie zu spielen, und erzählt fröhlich plappernd weitere Anekdoten aus ihrem Leben. Wir nähern uns der Innenstadt. Schade, dass die Tour schon vorbei ist.

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Schon am Stadtrand beginnt das Land: Einstige Bauernhöfe in Marktoberdorf

Expertenwissen. Hier findet man das geballte Know how zu Marktoberdorf.

Musikschloss. Konzerte, live oder im Livestream, Workshops, Veranstaltungen etc. in der Bayerischen Musikakademie.

Regionalität. Tipps für den Landkreis Ostallgäu, solide Website mit Adressen und Anregungen.

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