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Feb

Stadtpalais, Licht-Platz, Wunder-Ort – das Antonierhaus in Memmingen

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Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Zwei erfahrene Reisejournalisten, die ihrer Sammlung an Länderpunkten einen weiteren hinzufügen – das Allgäu. Wir besuchen das Antonierhaus in Memmingen. Von außen sieht es aus wie ein Stadtpalais, es überrascht mit einer guten Ausstellung über ein längst vergessenes Leid, beeindruckt mit moderner Offenheit und beglückt mit sehr leckerem Kuchen. Begleiten Sie uns…

von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)

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Diese Tor-Einfahrt führt in einen Gebäudekomplex aus dem 15. Jahrhundert…

Hilfsbereitschaft ist ein großes Thema dieser Tage. Und immer geht es dabei auch um ihren Wert. Ist sie grenzenlos? Oder gar selbstlos? Hat sie einen Preis? Was uns heute scheint wie eine zentrale Frage der westlichen Zivilisation, hat die Menschen schon vor hunderten von Jahren bewegt. Doch im Mittelalter, jener Epoche, in der Leben und Tod eine enge Nachbarschaft pflegten, war man pragmatisch: All seiner weltlichen Güter hatte sich der zu entledigen, wer die Hilfsbereitschaft der Antoniter in Anspruch nehmen wollte. Zudem musste man ewige Keuschheit schwören, pro Tag zwölf „Vater unser“ beten, zwölf „Ave Maria“ und den Orden als Erben einsetzen. Kaum vorzustellen, wie heutzutage die Reaktion ausfiele, würde ein Krankenhaus oder Hospiz ein ähnliches Geschäftsmodell einführen.

Das muss man wissen, wenn man dieses Gebäude in der Mitte von Memmingen betritt. Was auf den ersten Blick wirkt wie ein hochherrschaftliches Stadt-Palais, war einst ein Orden. Allerdings hatten sich die Antoniter spezialisiert. Ihre Pflege galt vor allem denen, die an einer besonderen Pilzvergiftung litten: Die Mutterkorn-Erkrankung, im Volksmund einst auch Antoniusfeuer, medizinisch heute Ergotismus genannt, ist eine Folge des Genusses mit pilz-befallenen Getreides. Darmkrämpfe, Halluzinationen, Durchblutungsstörungen in den Fingern und Zehen, die oft absterben und deshalb amputiert werden müssen. Eine Operation, die im Mittelalter durchaus lebensbedrohlich war.

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…mit einer zeitgenössischen und beeindruckend transparenten Stadtbibliothek…

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…und zwei Museen, die beide vor allem ein Thema haben: Menschlichkeit

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Einst ein Ort des Leids, heute ein Haus der Erkenntnisse:

Der Tod ist eigentlich allgegenwärtig in diesem Gebäude. Und deshalb verblüfft es umso mehr, wie hell und licht sich dessen Räume zeigen. Museumsdirektor Dr. Hans-Wolfgang Bayer führt uns durch die Räume seines Palais. Wo einst die Betten mit den Kranken standen, reihen sich heute Bücherregale. Wir versuchen uns die düstere Vergangenheit vorzustellen, doch sehen das Jetzt. Die Stadtbibliothek besticht mit aufwändiger Architektur, Stahl und Glas zwischen mittelalterlichen Wänden, moderne Fliesen und alte Dielen. Und das helle Gesamtensemble hat eine hohe Akzeptanz in der Stadt. Die Leihquote ist enorm, sie trotzt den Geistern der Vergangenheit genau so wie den Medientrends des Internet-Zeitalters.

Wir haben jetzt das Obergeschoss erreicht. Durch die Fenster geht der Blick auf die Stadt. Der Orden war in ihrer Mitte errichtet worden, nicht vor ihren Mauern. Ein Beweis für den Stellenwert, den die ursprünglich aus Frankreich stammende Bruderschaft hatte. Im 15. Jahrhundert betrieben sie europaweit mehr als 350 Spitäler. Ohne ein Heilsversprechen abgeben zu können, es herrschte das Prinzip „Glaube durch Heilung“ und „Heilung durch Glaube“. Als der Zusammenhang zwischen Erkrankung und Pilzbefall immer evidenter wurde – das Mehl war reiner, und die Zahl der Erkrankungen ging zurück –, verlor der Orden zunehmend an Bedeutung, das Kloster wurde schließlich säkularisiert. Neben dem Mutterhaus in St. Antoine gilt das Memminger Antonierhaus als der größte erhaltene Gebäudekomplex des Ordens. Mehr als 300 Jahre war das Hospital ein fester Bestandteil der Krankenfürsorge. Nach langem Leerstand wurde es 1996 schließlich durch einen Kraftakt der Bürger gerettet.

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• darüber, wie im Mittelalter gebaut wurde – mit Zwischenwänden und hohen Decken

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• wie bereits Räumlichkeit und Perspektive in die Malerei Einzug hielt

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• wie in Gemälden und Votivtafeln Geschichten erzählt wurden

Inzwischen ist das Antonier-Haus nicht nur ein Wunder-Ort, weil es sich mit einer düsteren Krankheits-Geschichte befasst und vor allem die Kraft der Hilfsbereitschaft und der Zuversicht vermittelt, sondern auch weil es seine Epoche in einem Licht erstrahlen lässt, das viele mit dieser Zeit nicht in Verbindung bringen. Das Mittelalter zeigt sich hier sehr gegenwärtig. Ein Zeitalter, dem die Nächstenliebe nicht fremd war. Mit einem differenzierteren Menschenbild als man denken mag. Und es erstaunt, wie viele Anknüpfungspunkte für den Geist einer neuen Zeit in Memmingen zu finden sind.

Ein weiterer Teil des Gebäudekomplexes birgt das Strigel-Museum. Das trägt den Namen einer Memminger Künstlerfamilie, deren Kunst weit über die Grenzen der damaligen Reichsstadt hinaus Bedeutung hatte. Wir sehen einige der Werke von Bernhard Strigel, Portraitmaler am Hofe Maximilians I. Es zeigt sich, dass Strigel bereits die räumliche Perspektive in seine Malerei gebracht hat – und die Authentizität. Seine Maria sieht aus wie eine Person ihrer Zeit, sein Johannes ist blond und wohlgenährt, mit blasser Haut und schmalen Augen. Man steht vor den Heiligen und schaut 500 Jahre zurück.

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Der Teufel steckt im Detail. Man stellte sich die Krankheit vor als groteske Fratze

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Das Leid aus dem Laib: Der Mutterkornpilz ist Auslöser des Antonierfeuers

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Musuems-Direktor Dr. Hans-Wolfgang Bayer zeigt die Ausbreitung des Ordens

Memmingen ist eine Stadt mit einer reichen Geschichte. Man begegnet ihr vielerorts. Und wer das Antonierhaus besucht, sollte irgendwann alle museumspädagogischen Momente hinter sich lassen – und einfach durch das Gebäude streifen: auf den Boden sehen, die Wände betrachten und berühren, die Türen und Fenster. Sich vorstellen, wie es wohl war, hier zu leben. Es gibt nur wenige Gebäude, die auch im Inneren so authentisch die Zeit darstellen. Jetzt gehen wir quer über den Hof mit seinem schönen Pflaster und betreten das Café im weiß verputzten Gewölbe. Längst ist es gute Sitte in den großen Museen der Welt, dass sie feine Cafés mit verdammt guten Kuchen und/oder Snacks haben. Und auch hier überzeugt der Kuchen. Alles andere hätte uns jetzt auch überrascht.

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Ein Ort der Freude: mit einer Aufforderung zum Lächeln und gutem Kuchen

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