23.

Nov

Fluchtwege, Folterkeller, fürstliche Gäste

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Exkursion in Marktoberdorfs Geschichte

Gotische Grundmauern fußen im 15. Jahrhundert. Gitterstäbe und Eisenringe erinnern an Folter und grausame Kerkerhaft. Fluchtwege, Folterkeller. Marktoberdorfs Geschichte und Geschichten. Im Bauch des Kurfürstlichen Schlosses Marktoberdorf verschließt eine rostige Eisenklappe ein düsteres Geheimnis.

Lagebesprechung im Innenhof des Schlosses, das heute die Musikakademie beherbergt

Geigenklänge mischen sich auf den Gängen der Musikakademie mit Trommel-Wirbel. Wo einst Kurfürsten ihre Vakanzen verbrachten, bis hin zum legendären Fürstbischof Clemens Wenzeslaus, prägen Treppen und Tonleitern das Auf und Ab. Eine handfeste Klappleiter braucht Hans Schwaiger, Mitglied im Heimatverein Marktoberdorf, und eine sehr gute Taschenlampe dazu, um die vergessene, verborgene Welt unter dem Kurfürstlichen Schloss mit einer Handvoll Interessenten zu ergründen.

Ein Epitaph im Innenhof des Schlosses als Hinweis auf die verborgenen „Tief-Brunnen“

Es ist später Nachmittag. Wir treffen uns im Innenhof des Kurfürstlichen Schlosses, eben da, wo der berühmte „Wilderer-Aufstand“ stattfand. Wer dem Jagdherrn ins Gäu kam, also gegen das Gesetz verstieß, vor allem aber Mörder und Totschläger, Gewaltverbrecher aller Art, saßen hier im 18. Jahrhundert ein, in düsteren, engen, vergitterten Verließen, die man auch heute noch sehen kann. Hans Schwaiger hat einen Lageplan dabei und deutet auf den im Keller befindlichen Kerker-Trakt bzw. – noch viel spannender – auf den selbst eingefleischten Marktoberdorfern oft völlig unbekannten, tief in den Grundmauern verborgenen und üblicherweise nicht zugänglichen Bereich der „Geheimgänge“ und Zisternen.

Historische Pläne von einer vergessenen Welt im Untergrund der heutigen Musikakademie

Ein Haufen bleicher Gebeine – harmlos
Eine feuerfeste Eisentüre schließt den Zellentrakt ab. Spinnweben zittern in der Zugluft um eine flackernde Glühbirne. Es ist fraglich, ob es wirklich nur höflich ist, dass wir Männer den Frauen in der Gruppe den Vortritt lassen. Aber Hans Schwaiger meint, hier sei noch alles ziemlich harmlos und „bis auf ein fadenscheiniges Leintuch-Gespenst, das einmal bei einer Party zur Fasnacht zur Deko gebastelt und hier vergessen wurde“, habe man keine unliebsamen Begegnungen zu erwarten. „Über den Haufen bleicher Gebeine da vorne“, dürfe man nicht erschrecken, das seien erkennbar Rindsknochen.
Immerhin, durch eng aneinander gesetzte Gitterstäbe fällt ins Souterrain unter dem schmalen Garten, der zur Hausmeisterwohnung gehört, sogar etwas gefiltertes Tageslicht in das Verlies.

Zugang zum historischen Gefängnis – und zur ältesten Mauer der Stadt Marktoberdorf

Eisenringe im Ziegelboden sind erkennbar, ebensolche an der Decke. „Dass hier einst auch gefoltert wurde, steht fest“, bestätigt unser Exkursionsleiter: „Und die Chronik weiß, dass mehrfach Todesurteile vollstreckt wurden!“ Wir zielen mit unseren Taschenlampen in eine größere Gemeinschaftszelle und entdecken eine Art Wassertrog. „Das war vielleicht die Ecke, in der die Gefangenen sich waschen konnten“, meint Hans Schwaiger.

Vermutlich die einzige Waschgelegenheit für die Gefangenen

Erinnerung an Kaiser Maximilian I.
Über die gruseligen Vorstellungen und Phantasien, die sich angesichts des historischen Gefängnisses bei uns allen einstellen, hinaus, ist genau dieser abgeschiedene Zellentrakt im Marktoberdorfer Schloss, der sich wegen seiner guten Akustik auch als Konzertraum eignen würde, ein für die Geschichte der Stadt ganz enorm bedeutsamer Platz.

Spinnweben wie im Gruselfilm

Die südliche Mauer des Kerkers wurde im 15. Jahrhundert errichtet – in der Hochgotik. Sie ist nachweislich originaler Bestandteil des schon 1424 in alten Quellen beschriebenen „Bischofshaus zu Oberstdorf“. Von einem Lust- und Jagdschloss ist die Rede, in dem auch einmal kein Geringerer als Kaiser Maximilian I. zu Gast war. In seinen Aufzeichnungen heißt es, er habe in einem „lustigen Häuslein zu Oberdorf“ genächtigt.

Maximilian (1449-1519) war ja nachweislich sehr oft in Kaufbeuren. Und einmal hat er einen seiner treuen Vasallen in Ebenhofen mit Tross und Bedeckung „heimgesucht“. Dass „der letzte Ritter“ auf dem Weg nach Italien oder zu einem seiner vielen Jagdausflüge ins Außerfern einmal – wie viele andere hochgestellte Persönlichkeiten – Gast des Augsburger Bischofs hier in Oberdorf war, ist absolut denkbar.

Die Leiter steht bereit, links unten ist die Eisentüre zu erkennen: der Zugang zur Unterwelt

Aus der Realität mit dem ältesten wohl noch erhaltenen Mauerstück aus der Marktoberdorfer Ortsgeschichte, hinter der sich gerade die schwere Feuerschutztüre wieder schließt, begeben wir uns jetzt in das Reich der Phantasie. Obwohl der reale Hintergrund durchaus vorhanden ist, den Hans Schwaiger jetzt dadurch eröffnet, dass er das Vorhängeschloss einer rostigen Eisenklappe öffnet, die in den Fußboden eingelassen ist. Unmittelbar vor dem Zugang zu den Gefängniszellen, führt durch ein schmales Loch ein senkrechter Gang in die Tiefe.

„Geheimgänge“ als Abenteuerspielplatz
Mehr wie drei „Forscher“ haben im Untergrund nicht Platz. Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Hans Schwaiger hat seine Klappleiter in den engen Kamin gestellt und ist – verschwunden. „Der Nächste kann kommen“, so der dumpfe Ruf von unten. Weil ich ja auch Fotos machen soll, darf ich/ muss ich gleich nach vorn. Die Leiter ächzt, dabei bin ich gar nicht so schwer. Und sie kippt leicht nach hinten weg, aber der Rand des Schachtes, gegen meine Schulter gepresst, hält mich. Vier Sprossen, vier Schritte und ich stehe in einem völlig dunklen, gemauerten Gang.

Etwas Mut braucht es schon, um hinabzusteigen… in die Geschichte der Stadt Marktoberdorf

Hans Schwaiger leuchtet mit seiner Taschenlampe erst nach links, da endet der Gang an einer Mauer, die aus Sicherheitsgründen eingezogen wurde. Ursprünglich verlief der Gang an der „südlichen Zisterne“ vorbei bis zu einem Erdloch an der Kurfürstenstraße. Unser Führer erinnert sich noch gut, dass die verwinkelten „Geheimgänge“ unterm Schloss der Abenteuerspielplatz für die Buben aus dem Riedle war.

Die Klappe ist rostig, der Abstieg steil und wackelig. Einer nach dem anderen verschwindet

Man stellte sich vor, dass es sich um Fluchtwege gehandelt habe. Bis dann einmal einer der Lausbuben, ein gewisser Heinz; der heute in den USA lebt, in die zwölf Meter tiefe Zisterne gestürzt war und zum Glück auf ein paar weit oben angebrachten Querbalken liegenblieb. Danach wurde der Gang verschlossen. Die südliche Zisterne ist also seit gut 60 Jahren nicht mehr zu erreichen, weil beim Bau einer Stützmauer an der Kurfürstenstraße das Erdloch für immer versiegelt wurde.

Eng ist es in den aus Ziegeln gemauerten Gängen, und ohne Taschenlampe stockfinster

Heute weiß man, dass es sich bei den aus Ziegeln gebauten Gängen nicht um Fluchtwege oder Geheimgänge handelt, sondern vielmehr um die Reste der historischen Wasserleitung: über hölzerne Deichlinge wurde das kostbare Nass technisch aufwändig aus dem Ort hinauf ins Schloss gepumpt. Hans Schwaiger erzählt, dass die Bauern aus dem Riedle für die Wasserversorgung der hohen geistlichen Herren auf dem Schloss verantwortlich zuständig waren.

Der Gang endet an einer morschen Holzbarrikade

Die östliche Zisterne ist von unserem Standort unter dem Eingangsloch aus in knapp fünf Metern Entfernung erreichbar. Doch „Vorsicht“, mahnt Hans Schwaiger, „sobald ihr unter dem vorne in Hüfthöhe eingezogenen Sicherheitsbalken durchgekrochen seid, bleibt am besten auf den Knien und tastet euch vorsichtig bis zum Rand des Brunnenschachtes vor.

Tatsächlich, die Warnung ist sinnvoll: meine Taschenlampe zeigt mir an, wo der gemauerte Boden endet und die „Unendlichkeit“ beginnt. Nun, ganz so schlimm ist es nicht, aber es geht wirklich tief, gefühlt sehr tief senkrecht hinunter. Hans Schwaiger hat ein paar weiße Kieselsteine dabei, die er in den Schacht fallen lässt. Es dauert eine Sekunde, bis es leise plätschert. Grundwasser glitzert im Licht der Lampen.

Hinein in die Unterwelt, von der heute niemand mehr etwas weiß…

Ich krieche rückwärts, wieder unter dem Sicherheitsbalken hindurch, und versuche mich an dem nächsten „Gast“ vorbeizuschieben, der sich von meinen Schilderungen nicht abschrecken lässt und selber ganz nach vorn an die Abbruchkante will. Es dauert noch eine gute halbe Stunde, bis alle Mitglieder unserer kleinen Gruppe „vor Ort“ waren und – alle mit leicht angestaubten Jacken und Anoraks – wieder sicher den Boden der Tatsachen Musikakademie erreicht haben. Mit einem lauten Knall fällt der Eisendeckel wieder auf den Zugang zu den vergessenen Gängen.

Hans Schwaiger hat als Lausbub noch in den geheimen Gängen gespielt

Anne Roth, die für die Öffentlichkeitsarbeit der Musikakademie zuständig ist, erzählt mir, dass Gefängnistrakt und Zisternenwelt den Schülerinnen und Schülern während ihrer Kursaufenthalte nicht automatisch gezeigt werden können. Einen „Partyraum“ kann man dort auch nicht einrichten, schon wegen der fehlenden Fluchtwege. Aber „es gibt laufend attraktive Themen-Führungen, die das Tourismusbüro der Stadt organisiert und bei denen auf die Unterwelt des Kurfürstlichen Schlosses hingewiesen wird, auch wenn Exkursionen dorthin – schon aus Sicherheitsgründen – nur ausnahmsweise möglich sind!“

Der harte Boden der versteckten Tatschen

Die Zusammenarbeit mit dem Tourismusbüro ist gut und wichtig, denn die Musikakademie ist einer der wichtigsten touristischen Gastgeber in Marktoberdorf. Von jährlich 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Kursen ist die Rede. Und von mehr als 20.000 Übernachtungen.

Wie viele Nächtigungen es vor Jahrhunderten im Schlossgefängnis gab, und wie lange die Gäste im Durchschnitt blieben, ist nicht überliefert.


Informationen zu Veranstaltungen im Schloss und den beliebten, besonderen  Themenführungen quer durch den Jahreskreis gibt’s aktuell unter: www.touristik-marktoberdorf.de

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